Offener Brief zur Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) an René Repasi MdEP

Lieber René,

am 8. Juni hat sich der Rat der Innenminister*innen der EU auf eine gemeinsame Position zur Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems geeinigt. Wir danken dir, dass du dir die Zeit genommen hast, als unser MdEP mit uns über dieses Thema zu sprechen.

Als Juso-Kreisverbände aus Baden-Württemberg sind wir aber der Meinung: Die Reform darf unter keinen Umständen in dieser Fassung verabschiedet werden!

Sie ist weder mit den sozialdemokratischen Grundwerten noch mit dem Gebot von Humanität gegenüber den Menschen vereinbar, die bei uns unter Einsatz ihres Lebens Schutz suchen. Die Reform ist die Abkehr von fundamentalen Menschenrechten und steht für ein Europa der Abschottung und der Zäune, indem sie längst Realität gewordene illegale Praktiken an der EU-Außengrenze legalisiert.

Die vorgeschlagenen Reformvorschläge sind weder praktikabel, noch tragen sie zu einer nachhaltigen Lösung der Krise der europäischen Migrationspolitik bei. Sie ist der Traum rechter Ideolog*innen und stellt einen Frontalangriff auf das Asylrecht dar.

Als Sozialdemokrat*innen stellen wir uns gegen diese Reform und sagen: „Schluss mit den Kompromissen mit rechten Ideolog*innen auf Kosten der Menschlichkeit!“.

1. Die unmittelbaren Folgen der Reform

    Kernstück der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist das Grenzverfahren. Dabei soll in einer Vorabprüfung geprüft werden, ob die Schutzsuchenden berechtigt sind, einen Asylantrag in einem EU-Staat zu stellen. Einziges Prüfkriterium ist die bisherige Anerkennungsquote der Asylanträge aus dem Heimatland der Personen. Liegt diese unterhalb von 20%, werden die Flüchtenden, dem Grenzverfahren, einem Express-Asylverfahren zugeführt.

    Dem Grenzverfahren vorgeschaltet ist eine Zulässigkeitsprüfung. Als unzulässig gelten dabei Anträge, deren Antragsteller über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ eingereist ist. In diesem Fall erfolgt die Abschiebung unmittelbar, ohne Prüfung des Asylantrages.

    Insbesondere bleibt damit beispielsweise einer jungen Afghanin, die von ihrer Botschaft natürlich kein Reisevisum erhält, das Anrecht auf einen Schutzstatus in der EU verwehrt, wenn sie über die Türkei eingereist ist, da die Türkei als sicherer Drittstaat gilt. Dabei wird aber z.B. die Asylgesetzgebung der Türkei faktisch den an sichere Drittstaaten bisher angelegten Maßstäben nicht gerecht. Die Reform will daher zudem die Anforderungen für die Annahme eines sicheren Drittstaates absenken und überlässt so Schutzsuchenden autokratischen Regimen.

    Die Grenzverfahren selbst werden rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht gerecht und sind so konstruiert, dass Schutzsuchenden die Durchsetzung ihres Anspruchs auf Asyl erschwert wird, nur weil die bisherige Anerkennungsquote des jeweiligen Drittstaates nicht hoch genug ist. Zugang zu einem vollwertigen und inhaltlichen Asylverfahren im Sinne der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erhalten die Menschen nur nach positiver Vorprüfung.

    Es ist davon auszugehen, dass viele Menschen versuchen werden, sich diesem Verfahren zu entziehen. Für die Dauer dieser vorabprüfung von bis zu 12 Wochen sollen die Ankommenden daher in Haft genommen werden, ohne jemals gegen Recht verstoßen zu haben. Generelle Ausnahmen für Familien, Schwangere, Kinder, chronisch kranke Personen oder andere besonders vulnerable Gruppen sind dabei nicht vorgesehen.

    Dabei ist es absurd, wenn unsere Genossin und Innenministerin Nancy Faeser verkündet, man habe in den Verhandlungen erreicht, dass die inhaftierten Flüchtenden in jedem Fall auf die Möglichkeit der Beiziehung eines Rechtsbeistandes hingewiesen werden müssen. Bei Haftlagern in der Peripherie, weit außerhalb von Städten, kann man sich vorstellen, dass es für Flüchtende faktisch unmöglich sein wird, überhaupt Kontakt zu Rechtsanwält*innen aufnehmen zu können, geschweige denn schließlich auch tatsächlich von diesen beraten und vertreten zu werden, wenn sie beispielsweise Widerspruch gegen einen abgelehnten Asylantrag einreichen wollen.

    Weitere vorgesehene Mechanismen, wie die Fiktion der Nichteinreise tragen dazu bei, für die Zeit des Grenzverfahrens den Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren oder die Prüfung von Gerichtsentscheidungen in den sogenannten Transitzonen zu erschweren.

    Wird ein Antrag im oben beschriebenen Prozess als unzulässig erklärt, wird die Rückführung in einen sicheren Drittstaat veranlasst. Das kann sowohl ein Staat sein, zu dem die geflüchtete Person keinerlei persönlichen Bezug hat und der ihr völlig fremd ist, als auch ein Staat, der aufgrund der individuellen Fluchtursache (die nicht geprüft wird!) nicht als sicheres Aufnahmeland für diese Person einzustufen ist. Insbesondere kann nicht verhindert werden, dass diese Person in einen weiteren noch unsicheren „Viertstaat“ abgeschoben wird („Kettenabschiebung“), der von der EU nicht einmal als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wird. Die Türkei beispielsweise schiebt Afghan*innen in den Iran oder nach Afghanistan ab, was dazu führt, dass die afghanische Schutzsuchende aus obigem Beispiel mit großer Wahrscheinlichkeit wieder in das Land zurückgeführt wird, aus dem sie geflohen ist. Schon die
    erste Abschiebung wäre in diesem Fall rechtswidrig.

    Die vorgesehene Senkung der Hürden zur Klassifizierung eines Staates als sicheren Drittstaat wird diese längst bekannte Praxis weiter befeuern.

    2. Die Reform ist nicht praktikabel

    Die Erfahrung zeigt, dass die Ziele der Reform nicht umsetzbar sind. Seit 2015 gibt es kein Beispiel einer Erstaufnahmeeinrichtung an der EU-Außengrenze, die eine ausreichende humanitäre/rechtliche Versorgung gewährleisten könnte und die damit auf eine Praktikabilität der Reformpläne hindeuten würde. Im Gegenteil, das Leiden der Schutzsuchenden in den verschiedenen Lagern auf Inseln, wie Lesbos, Samos, Moria oder Lampedusa ist vielfach dokumentiert. Die Unterbringung der Menschen in Lagern wie diesen ist schon jetzt mit den Menschenrechten nicht vereinbar und im noch größeren Stil nicht umsetzbar.

    3. Die Reform trägt nicht zur Lösung der Probleme bei

    Eine zentrale Ursache für die Krise der EU-Migrationspolitik ist das Fehlen eines EU-weiten, verbindlichen Solidaritätsprinzips. Das Dublin-Abkommen, nach dem grundsätzlich der Staat der Ersteinreise für Aufnahme- und Asylverfahren zuständig ist, ist gescheitert und führt zu einer Überlastung der Mittelmeer-Staaten. Genau für dieses Problem liefert die Reform jedoch nur eine freiwillige Lösung v.a. in Form von Geldzuschüssen. Das führt dazu, dass der Großteil der Verantwortung weiterhin Staaten wie Griechenland zukommt, das bekanntermaßen fast täglich Menschen über illegale, gewaltsame Pushbacks unter Inkaufnahme von Todesopfern
    an der EU-Außengrenze zurückdrängt, um den Flüchtenden den Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren, auf das sie einen Anspruch haben, zu versperren. Nichts deutet darauf hin, dass diese Praxis im Zuge der Reform eingestellt wird.

    Auch die dringend benötigte Beschleunigung der Asylverfahren bleibt aus, da eine solche erfahrungsgemäß nur durch rasche sorgfältige inhaltliche Prüfung und nicht durch zusätzliche administrative Vorabprüfungen erreicht wird.

    Im Allgemeinen ist durch die Reform eine weitere Befeuerung von Schlepperkriminalität zu erwarten. Um die bevorstehende Grenzhaft zu umgehen und aufgrund der Aussichtslosigkeit der Grenzverfahren werden sich mehr Menschen aus Verzweiflung in die Hände skrupelloser Schlepper*innen und in nicht fahrtüchtige Boote begeben, in der Hoffnung so, vorbei an den Zäunen, Zugang zu einem fairen Asylverfahren im Land selbst zu erhalten.

    Die SPD muss sich die fundamentale Frage stellen: Wie wollen wir mit Menschen umgehen, die an der EU-Außengrenze Schutz suchen? Als Sozialdemokrat*innen sind wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet. Wir stehen immer auf der Seite von Humanität und Menschenrechten und niemals auf der Seite von Abschottung, illegalen Pushbacks und Menschenfeindlichkeit.

    Ohne Zweifel steckt die europäische Migrationspolitik in einer Krise. Fehlende Solidarität und die Überforderung der Staaten an der Mittelmeerküste sind der Grund dafür. Die vorgeschlagene Reform trägt aus unserer Sicht nicht zur Lösung dieser Krise bei. Im
    Gegenteil, sie ist nicht mit den fundamentalen Menschenrechten, der Genfer Flüchtlingskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention vereinbar. Der Gedanke eines freiheitlichen und toleranten Europas der offenen Grenzen findet sich in ihr nicht.

    Für uns ist deshalb klar:

    • Der Reform darf in dieser Fassung nicht zugestimmt werden!
    • Das Recht eines jeden Menschen auf ein faires und individuelles Asylverfahren nach sachlichen Kriterien und unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien ist für uns unverhandelbar.
    • Eine Abschiebung der Verantwortung an vermeintlich sichere Drittstaaten, sobald die Schutzsuchenden über diese eingereist sind, muss verhindert werden.
    • Keine Inhaftierung von Schutzsuchenden während ihres Asylverfahrens!
    • Illegale Zurückweisungen an der Grenze müssen konsequent untersucht und bestraft sowie künftig verhindert werden.
    • Es braucht eine Koalition der aufnahmebereiten Staaten zur Erarbeitung eines Konzepts für eine faire Verteilung Schutzsuchender in der EU sowie mittelfristig einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus, der alle EU-Staaten verpflichtet, ihrer Verantwortung aus Art. 18 der EU-Grundrechtecharta gerecht zu werden.

    Eine Reform, die diese Forderungen nicht umsetzt, ist aus unserer Sicht ein Rückschritt bei der Umsetzung der fundamentalen Menschenrechte für alle Menschen und ein historischer Fehler.

    Wir fordern dich und alle Genoss*innen im Europäischen Parlament, im Parteivorstand und in anderweitiger Verantwortung daher auf, diese Verantwortung für Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit anzunehmen, die Verabschiedung der Reform des Europäischen
    Asylsystems zu verhindern und eine menschenrechtskonforme, solidarische und rechtsstaatliche Reform auf den Weg zu bringen.

    Wir danken dir, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns über das Thema zu sprechen. Wir hoffen auf deine Unterstützung und sind gespannt auf weitere Perspektive zu dem Thema. Für weitere Gespräche stehen wir natürlich jederzeit zur Verfügung.

    Solidarische Grüße

    Jusos Baden-Württemberg, Jusos Heidelberg, Jusos Stuttgart, Jusos Ostalb, Jusos Freiburg im Breisgau, Jusos Breisgau-Hochschwarzwald, Jusos Emmendingen, Jusos Ulm, Jusos Kreis Esslingen, Jusos Ludwigsburg, Jusos Ortenau, Jusos Rhein-Neckar, Jusos Neckar-Odenwald, Jusos Schwarzwald-Baar, Jusos Rastatt/Baden-Baden